Warum es zwischen 100 und 0 Prozent noch etwas geben muss
Warum es zwischen 100 und null Prozent noch etwas geben muss von Reiner Klingholz und Uwe Amrhein
Die Uckermark ist nicht Berlin und die Hocheifel ist nicht Frankfurt. Auf dem platten Land fährt die U-Bahn nicht im Zehnminutentakt, Einkaufsmöglichkeiten sind rar und zur nächsten Facharztpraxis ist es eine halbe Expedition – jedenfalls für alle, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind. Die Versorgung mit Gütern und öffentlichen Dienstleistungen in den ländlichen, vom Bevölkerungsrückgang geplagten Gebieten Deutschlands wird immer schwieriger. "Gleichwertige Lebensverhältnisse“, die das Grundgesetz auf dem Papier zum Leitbild stilisiert hat, sehen anders aus. Sie entsprechen ohnehin einem westdeutschen Sozialverständnis der Nachkriegszeit, das sich unter der Erwartung dauerhaften Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums tatsächlich in die Fläche tragen ließ. Doch spätestens seit der Wiedervereinigung, als im Osten der Exodus junger Menschen besonders vom Land einsetzte, kann der zuvor so fürsorglich planende und versorgende Staat kaum noch etwas dafür tun, dass sich die Lebensverhältnisse in ökonomisch schwachen ländlichen Gebieten auch nur annähernd an jene der wirtschaftsstarken Metropolen angleichen. Der demografische Wandel teilt das Land zunehmend in Gewinner- und Verliererzonen. Das ist beklagenswert – aber kaum zu verhindern. Der Anspruch der Gleichwertigkeit ist damit zu einer leeren Hülse geworden, der die Menschen vor Ort zunehmend enttäuscht und verärgert zurücklässt und im schlimmsten Fall populistischen Parteien in die Arme treibt. Wenn sich aber der urbane Maßstab der Versorgung, die Schul- und Ärztedichte, das Angebot an Bibliotheken, Kindergärten und Schwimmbädern unmöglich auf die weite Peripherie der Bundesländer anwenden lassen, was wäre dann zu tun? Sicher nicht das, was heute dem Alltag in diesen Regionen entspricht: Weil es an Geld fehlt, um die öffentliche Versorgung auch bei immer weniger Nutzern nach den vorgeschriebenen Standards aufrecht zu erhalten, schließen Verwaltungen, aber auch die Privatwirtschaft eine Einrichtung nach der anderen: Schulen, Krankenhäuser, Bus- und Bahnlinien, Ämter, Bankfilialen und Geschäfte. Fatalerweise erzwingt dies häufig gerade der Anspruch auf die Gleichwertigkeit. Denn wer wollte der ländlichen Bevölkerung eine Versorgung zweiter Klasse anbieten, eine Infrastruktur und Leistungen, die nicht sämtlichen Landes-, Bundes- und EU-Normen entsprechen? Hier stellen sich grundsätzliche Fragen: Muss die ärztliche Berufsordnung verhindern, dass eine Zahnärztin wenig mobile ältere Patienten nach Bedarf mit ihrer rollenden Praxis aufsuchen darf? Muss die Freiwillige Feuerwehr in einem kleinen Dorf die gleichen hohen Standards erfüllen wie in einer dicht besiedelten Gegend? Und ergibt es irgendeinen Sinn, den Transport von Personen, Gütern des täglichen Bedarfes und Medikamenten für die alternde Bevölkerung in ein- und demselben Fahrzeug mit getrennten Gesetzen für die Personen- und die Güterbeförderung zu verunmöglichen? Manchmal scheint es, als seien die Deutschen (und die EU) Meister darin, sich mit ihren Verwaltungs- und Planungsvorgaben Probleme überhaupt erst zu schaffen. Die erdrückende Last von Regeln, Gesetzen, Verwaltungsvorschriften, Erlassen und Normen bewirkt, dass Behörden und Privatleute einen 100-Prozent-Fimmel entwickeln. Doch wer dem bürokratischen Reflex erliegt, all diese Vorschriften einzuhalten, verliert das Wesentliche aus den Auge: nämlich die Erkenntnis, dass unter diesen Bedingungen Versorgungsangebote ganz verschwinden, wenn sie nicht an die100-Prozent-Vorgabe herankommen. Die Alternative zu einer unerreichbaren 100-Prozent-Norm bedeutet für die betroffene Bevölkerung also häufig null Prozent Versorgung bei einem bestimmten Angebot: Dann fährt eben gar kein Bus mehr, die Arztpraxis wird dicht gemacht und der Kindergarten geschlossen. Die Idee, dass den Menschen vor Ort angesichts der Alternative auch ein 90-Prozent-Angebot ausreicht, wird dabei vielfach ausgeblendet. Käme es hier zu einem generellen Umdenken, könnte manche Schule erhalten bleiben, statt Bussen würden andere Verkehrsmittel die Menschen von A nach B bringen und Gemeinden selbst Arztpraxen betreiben, Alten-WGs und Kindergärten würden entstehen. Das Prinzip von Normen und Gesetzen ist, Beständigkeit und Beharrlichkeit zu schaffen. Eine Gesellschaft, die sich wie hierzulande in den ländlichen Räumen erneuern muss, braucht jedoch genau das Gegenteil von Beharrlichkeit. Sie braucht sogar den Mut, Neues auszuprobieren, notfalls auch Grenzen unsinniger Gesetze großzügig auszulegen. Neben Freiräumen von „oben“ ist dafür auch „unten“ ein Umfeld vor Ort nötig, das auf neue Ideen nicht reflexartig mit „das geht sowieso nicht“ reagiert. Alte Gewohnheiten und ausgetretene Pfade dürfen kein Korsett für Innovationen sein. Auf dem Land ist das Leben vielerorts schwieriger geworden. Doch die Not macht die Menschen erfinderisch und es mangelt nicht an Ideen, wie es sich trotz aller Schwierigkeiten besser organisieren ließe. Die vorliegende Studie beleuchtet die wachsenden Versorgungsprobleme der ländlichen Gebiete. Sie ist aber vor allem eine Sammlung von Hemmnissen, die neuen Versorgungsangeboten im Wege stehen und von mutigen Personen, die diese Hürden mit klugen Ideen, Witz und Beharrlichkeit aus dem Weg räumen. Diese Personen brauchen Unterstützung, damit sie allen Hürden zum Trotz bei der Stange bleiben und zwar selbst wenn sie einmal scheitern. Denn bei der Suche nach neuen Lösungen kann nicht alles auf Anhieb funktionieren. Viele Ansätze müssen wieder aufgegeben werden, damit sich am Ende das durchsetzt, was den Bewohnern das Leben erleichtert. Erst wenn das gelingt, wird sich zeigen, dass die Menschen auf dem Land kreativer sind und aus eigener Kraft ihr Lebensumfeld attraktiver gestalten können, als wir es heute glauben.
Dr. Reiner Klingholz
Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Uwe Amrhein
Leiter Generali Zukunftsfonds